Schmerzen

17.10.2018 10:44
Quelle: Stadionwelt
Handballer pflegen bereitwillig ihr Image als beinharte Sportler. Die Kultur der damit verbundenen Leiden und ihre Folgen werden oft ausgeblendet. Eine Reise durch die weite Welt der Schmerzen.

Mit oder ohne Betäubung?“, fragt der Doc. Oliver Roggisch überlegt da nicht lange: „ohne.“ Eine Wunde klafft auf der Stirn des Kreisläufers, sie blutet stark und muss nun in der Mannschaftskabine zusammengeflickt werden. Kein Problem, findet Roggisch. Vielmehr fürchtet er um seine Frisur, als der Doc beginnt, das Haupthaar an der blutenden Stelle wegzurasieren. „Ey“, motzt Roggisch. „Muss sein“, entgegnet der Doc. Dann tackert er die Wunde zweimal, während der Profi kurz die Augen zukneift. Kurz darauf stapft Roggisch wieder in die Halle. Zurück in die Schlacht. Soweit die bekannte Szene aus dem schönen Film „Projekt Gold“, der den Weg der damals von Heiner Brand dirigierten deutschen Nationalmannschaft zum WM-Triumph 2007 in Köln dokumentiert. Das Tackern ereignete sich ein paar Monate zuvor beim World Cup in Schweden. Aber diese Episode fernab des Publikums war, auch wenn sie zeitlich nicht passte, für die Regisseure dramaturgisch zu verlockend. Diente sie doch als perfekte Folie für die Härte der Handballprofis. Es gibt einige Nationalspieler, die in dem Film von ihren zahlreichen Verletzungen erzählen. Sehnenabriss in der Hand, Finger ausgekugelt, Kniescheibe lädiert, Nasenbeinbruch. Nix Großes, sagt Roggisch mit einem Lächeln.

Linker Ellenbogen ausgekugelt, Bänderrisse en masse, Mittelhandbruch, Muskelfaserrisse, Knochenabsplitterung, die Schulter, zählt Pascal Hens auf. Beide machen das nicht ungern,sie kommentieren diese Liste mit einem Lächeln. Wenn man nicht wüsste, dass es in diesem Film um Handball geht, könnte man denken, hier berichten Weltkriegsveteranen mit Stolz von ihren Wunden und Verwundungen. Jede Verletzung wie ein militärischer Orden. Jeder Schmerz wie eine Trophäe. „Solange es weh tut, weißt du, dass du noch lebst“, sagt Roggisch in dem Film. „Wir werden es vermissen, wenn wir eines Tages nicht mehr spielen.“ Schmerzen gehören zum Handball, das weiß jeder Handballer und erst recht jeder Profi. Nikola Bilyk, Jungprofi beim THW Kiel, hat Handball kürzlich in der Zeitung „Der Standard“ den „brutalsten Mannschaftssport nach Rugby“ genannt. „Man muss äußerlich schon ein harter Hund sein.“ „Beim Handball kannst du nicht ohne Schmerzen spielen und ohne Schmerzen leben. Dafür gibt es im Spiel zu viel Körperkontakt“, sagte Nikola Karabatic einmal in einem FAZInterview. Handball sei nun einmal kein Ballett, stellte Trainer Noka Serdarusic lakonisch fest. „Leistungssport ist eine permanente Grenzüberschreitung. Das musst du akzeptieren – oder aufhören“, sagte Torsten Jansen, der Weltmeister von 2007, am Ende seiner langen Laufbahn.

Schmerzen sind also Teil des Alltags. Aber gibt es im Handball womöglich eine spezielle Kultur im Umgang mit Schmerzen? In dem Buch „Unerhörte Leiden. Die Geschichte der Schmerztherapie in Deutschland im 20. Jahrhundert“ hat der Autor Wilfried Witte, ein an der Berliner Charité tätiger Oberarzt, nicht zufällig für das Kapitel „Schmerz und Spiel“ das Beispiel des Handballs ausgewählt. Wittes Behauptung: „Positiv aufgefasst wird Schmerz von den meisten Menschen bis zur Gegenwart im Sport.“ Eine steile These. Erleben denn Leistungshandballer den Schmerz, so wie es Roggisch darstellte, tatsächlich als lustvoll? Gewöhnen sie sich daran? Oder ist das nur Show? Sind diese Schmerzen dauerhaft nur mit Betäubungspräparaten wie Voltaren auszuhalten? Welche Gefahren liegen im Konsum der Schmerzmittel? Inwiefern beeinflussen die Regeln des Spiels das Ausmaß der Schmerzen? Gibt es im Handball „gute“, also akzeptierte Schmerzen, eine Art Schmerz-Kodex? Warum werden Handballprofis, die angeblich nicht in die Zone des Schmerzes gehen, von der Kritik und Mitspielern belächelt oder gar verachtet?

Man kann, wenn man will, im Handball eine lange Reise durch die bizarre Welt der Schmerzen antreten. Ein grundlegendes Problem der Schmerzen besteht darin, dass sie individuell stark voneinander unterschieden werden. Schmerz sei „etwas sehr Komplexes“, erklärte Sven Gottschlich, leitender Arzt für Kinderschmerztherapie an der Universitätsklinik des Saarlandes, kürzlich in der FAZ. „Auch wenn ich mir mit einem Hammer auf den Finger schlage, entsteht das, was ich dann wahrnehme, im Kopf. Die Wurzelbehandlung beim Zahnarzt fühlt sich sehr unterschiedlich an, je nachdem, ob ich eine halbe Stunde zuvor erfahren habe, dass mir zu Hause die Hütte abgebrannt ist, oder von einem Lottogewinn. Bei dem einen Mal werde ich viel mehr Schmerzen haben, als eigentlich notwendig, und beim anderen Mal merke ich wahrscheinlich nichts, weil ich im Geiste mit einem seligen Lächeln meine Yacht einrichte.“ Wie man Schmerz erfährt, wird also stark durch psychische und soziale Faktoren beeinflusst. Bezogen auf den Handball, kommen noch weitere physiologische Aspekte ins Spiel, welche die Schmerzerfahrung enorm beeinflussen. Da ist zum einen die Tatsache, dass die Körper der Handballer in einem Spiel in den Modus eines „Überlebenskampfes“ schalten und Adrenaline und andere Substanzen produzieren, die den Schmerz endogen dämpfen (siehe das Interview mit Dr. Valentin Markser). „Im Spiel selbst spürt man die Schmerzen aufgrund des Adrenalins eh nicht“, berichtet Bilyk. „Aber der Tag nach einem Spiel kann schlimm sein.“

Jeder Körper reagiert anders, auch im Profibereich, sagt Dr. Detlev Brandecker, der seit Jahrzehnten den THW Kiel als Mannschaftsarzt begleitet. „Es gab Spieler, die eine enorm hohe Schmerzschwelle hatten“, erzählt er. „Pitti Petersen hat mal, was ich für unmöglich hielt, mit angebrochenem Finger gespielt. Auch Magnus Wislander konnte Dinge aushalten, die eigentlich unmenschlich waren.“ Eine gewisse Leidensbereitschaft müsse da sein, so Brandecker. „Wer die Schule des Handballs hinter sich hat und auf diesem Niveau spielt, der muss ein harter Kerl sein.“

Und es treten offensichtlich Gewöhnungseffekte ein. „Ich fing mit sechs Jahren an und habe gelernt, jeden Tag ein bisschen mehr Schmerzen auszuhalten“, erzählte Hens einmal dem „Stern“. Der Trainer des TVB Stuttgart, Markus Baur, erzählt, dass er als Profi ein völlig anderes Schmerzempfinden erlebt habe. „Wenn man so im Saft steht, dann verkraftet man die Härte viel besser. Ich will nicht sagen, dass ich heute ein Weichei bin. Aber selbst, wenn ich heute mal eine Voltaren nehme, dann wirkt sie viel stärker als in meiner Zeit als Profi.“

Wagen wir zunächst einen Blick in die Historie der Schmerzen. Während der Feldhandball nahezu körperlos vonstatten ging, waren brutale Härte und Schmerzen im Hallenhandball seit den 1960er Jahren an der Tagesordnung. Wer sich internationale Spiele aus den 1970er und 1980er Jahren anschaut, staunt angesichts der vielen fliegenden Fäuste in der Nähe des Torraumes nicht schlecht. In den Duellen zwischen BRD und DDR 1975 und 1976, die zum Klassenkampf zwischen Ost und West stilisiert wurden, beispielsweise gab es tüchtig auf die Schnauze. „Wir nannten das ‚operieren‘“, lacht Kurt Klühspies, Weltmeister von 1978 und einer der Zeitzeugen dieser Handball-Schlachten. Verdeckte und schmutzige Fouls gehörten zum Spiel. Das lag auch daran, dass man sich selten gegenüberstand, erklärt Klühspies. „Heute treffen sich die Spieler ja alle Wochen wieder.

Da ist der Umgang ein anderer. Aber damals spielten wir nur zweimal im Jahr gegen Rumänien. Da wurde dann ordentlich zugelangt, da gab es richtig auf die Ohren.“ Zudem ließen die Schiedsrichter viel mehr laufen und die Regeln mehr zu. Fernsehen respektive Videobeweis als Korrektiv gab es noch nicht. Weshalb man munter drauflos kloppen konnte, ohne Sanktionen fürchten zu müssen.

Hansi Schmidt, einer der größten Stars der 1960er Jahre, listete nach seiner Karriere die ganze Palette fieser Fouls auf. „Schläge ins Gesicht, Tritte auf die Füße, Stöße in den Magen oder in die Hoden, blitzschnell mit dem Ellenbogen oder mit der Handkante ausgeführt, Pferdeküsse und Stiche mit den Fingern, all diese Fouls kommen in einem Spiel immer wieder vor.“ Schmerzfrei sei er eigentlich an keinem Tag, berichtete er noch 1982. Also lange nach seinem Rücktritt aus dem Bundesligahandball 1976. Wer austeilte, der musste allerdings alttestamentarische Rache fürchten: Auge um Auge, Zahn um Zahn, dieses Motto war weit verbreitet. Wer zum Beispiel den Gummersbacher Jochen Brand schwer foulte, durfte sich im nächsten Gegenzug auf die legendäre Härte des älteren Bruders Klaus freuen. Es gab Abwehrspieler, deren Qualität insbesondere darin bestand, den Angreifern weh zu tun. Ein solches Image, das seinerzeit keineswegs als ehrenrührig galt, besaß beispielsweise Abwehrspezialist „Piet“ Krebs, zentraler Verteidiger beim TUSEM Essen in den 1980er Jahren. Heute undenkbar, mit welcher Härte die Angreifer rechnen mussten. Umso süßer zuweilen die Rache. Die älteren Fans des THW Kiel erzählen noch heute genüsslich von einem Spiel, in dem Krebs, weil der etatmäßige Kreisläufer ausgefallen war, unverhofft im Angriff ran musste. Da hatte auch er, der harte Hund, schwer zu leiden. Es gab Trainer, die Schmerzen ganz bewusst als Mittel der Auslese und Mannschaftsfindung einsetzten. Ein berühmtes Beispiel dafür ist Vlado Stenzel, Bundestrainer von 1974 bis 1982, der seine Schützlinge teilweise mit atemberaubend langen Trainingseinheiten quälte. Stenzel verlangte etwa, dass sich seine Kreisläufer bei Pässen von den Flügeln in den Wurfkreis warfen, um so in eine bessere Wurfposition zu gelangen. „Das haben wir dann gemacht bis zum Erbrechen“, erzählt Richard Boszkowski von diesem Trainingselement, das die Hüften stark in Mitleidenschaft zog. „Der Horst Spengler und ich haben dann irgendwann Schoner an die Hüften genommen, damit es nicht so weh tut. Klaus Westebbe wollte das nicht. Er hat den Ball im Stehen gefangen und hat dann geworfen.“ Weshalb Stenzel den eigentlich besten deutschen Kreisläufer aus der Mannschaft warf, nur weil er die Schmerzen nicht zu erleiden bereit war. Wer noch laufen kann, der kann auch spielen, lautete Stenzels Devise. Während eines Ostseepokalturniers hatte sich Boszkowski das Sprunggelenk schwer verstaucht und konnte kaum auftreten. Als er dem Trainer davon berichtete, fragte Stenzel: „Was ist? Kannst Du spielen?“ Zur Not ja, entgegnete Boszkowski zögerlich. „Da kam Stenzel und hat mir voll gegen das Schienbein getreten.“ Und sagte: „Na also, Du kannst spielen.“ Daraufhin legte der Masseur den Fuß derart dick in Tapeverbände, erzählt Boszkowski, „dass ich nur noch geradeaus laufen konnte. Zur Seite ging nix.“ Heute verstehe er Stenzels Idee, über den Schmerz Auslese zu betreiben, besser als damals: „Stenzel hat versucht, die Spieler über eine gewisse Grenze hinaus zu treiben.“

Zu Beginn der 1990er Jahre vollzog sich ein Wandel im Umgang unter den Profis, so jedenfalls erinnert sich Karsten Kohlhaas an diese Zeit. „Die Zeit der brutalen Schläger war vorbei“, so der damalige Nationalspieler. Selbstverständlich habe es weiterhin äußerst harte Gegenspieler gegeben, Klaus-Dieter Petersen etwa. „Aber es wurde fairer, auch weil die Regeln strikter ausgelegt wurden.“ Kohlhaas, der heute als Arzt praktiziert, ist fest davon überzeugt, dass die Professionalisierung den Umgang mit den Schmerzen neu gewichtete. „Es gab in dieser Zeit ja die ersten Vollprofis.

Und es wuchs ein Bewusstsein dahin gehend, dass man eine Verantwortung nicht nur für sich, sondern auch für den Gegenspieler entwickelte, der im Handball genauso sein Auskommen haben sollte.“ In dieser Ära entwickelte sich ein Kodex unter den Handballprofis, der bis heute klar regelt, welche Fouls (und damit welche Schmerzen) erlaubt sind und welche nicht. Es ging weiterhin hart zur Sache, das ja. Aber wer nun Schmerzen durch dreckige Fouls produzierte, für den wurde es zunehmend komplizierter im überschaubaren Milieu des Profihandballs. „Heute gibt es eigentlich keinen Spieler auf hohem Niveau, der fies foult oder dreckig spielt“, sagt Baur, der Kapitän der 2007er Weltmeister. Auch international nicht? „Einer der letzten Vertreter war Issam Tej, der tunesische Kreisläufer“, sagt Baur.

Elementarer Bestandteil dieses unausgesprochenen Vertrages ist bis heute, dass man keine Schmerzen simuliert: Die Schauspieler unter den Handballprofis bilden die unterste Kaste in dem System des Profihandballs. Profis mit theatralischen Talenten müssen scharfe Sanktionen fürchten, wie der Fall des Ivan Nincevic belegt. Der kroatische Linksaußen traktierte über Jahre seine Gegenspieler in der Bundesliga nicht nur mit Trashtalk, sondern auch mit schauspielreifen Einlagen nach harmlosen Zweikämpfen. Es war insofern kein Zufall, dass der HSV-Profi Torsten Jansen, der als fairer Profi galt, im Jahr 2013 Nincevic einen brutalen Kopfstoß versetzte.

Diese Aktion wurde selbstverständlich scharf verurteilt. Jansen, selbst erschrocken, entschuldigte sich bei Nincevic und zahlte eine hohe Geldstrafe. Aber es gab unter den Kollegen nicht wenige, die diese Sanktion klammheimlich befürworteten. Es sei nicht richtig, was Jansen getan habe, meinte Kiels Anführer Filip Jicha seinerzeit. „Aber ich kann mir vorstellen, was passiert ist. Nincevic ist nicht gerade der Spieler, der sehr beliebt ist durch seine Provokationen und häufigen Simulationen im Spiel.“ In diesem Zusammenhang forderte Jicha neue Regeln, um Simulanten zu bestrafen.

Diese Regel wurde im Sommer 2016 von der Internationalen Handball Federation (IHF) eingeführt. Sie besagt bekanntlich, dass ein verletzter Spieler das Spielfeld, nachdem er dort medizinisch behandelt wurde, verlassen muss und erst dann wieder betreten darf, wenn sein Team drei Angriffe abgeschlossen hat – vorausgesetzt, der Verletzung geht keine Sanktion eines Gegenspielers durch den Referee voraus. Eingeführt wurde diese Bestimmung in erster Linie, um Schauspielerei zum Zweck der Spielverzögerung zu unterbinden. Tatsächlich wurde das Spiel der Profis dadurch noch einmal spürbar beschleunigt, weil kein Handballprofi freiwillig für drei Angriffe aussetzen mag. Auf der anderen Seite führt die Regel in der Praxis auch dazu, dass ein tatsächlich verletzter Spieler sich sofort aufrappelt, nur um keine Behandlungspause zu riskieren und drei Angriffe zu fehlen. Sie sorgt also in Rücktrittsgrund Verletzung: Nationalspieler Arno Ehret in seinem letzten Länderspiel (1983) einigen Fällen dafür, dass Schmerzen unterdrückt bzw. ausgeblendet werden.

Dabei ist es die wichtigste Aufgabe von Spielregeln, den Handball so zu organisieren, dass die Spieler möglichst ohne Verletzungen und Schmerzen wieder nach Hause gehen können – Ärzte wie Dr. Markser sind der Meinung, dass man sie sogar noch strikter fassen sollte, um das Spiel wieder kreativer und freier zu machen.

Noch in den 1970er Jahren war es im Spitzenhandball unüblich, Schmerzmittel einzunehmen. „Das gab es damals nicht“, sagt Kurt Klühspies. „Wenn ich mal einen Pferdekuss abbekommen hatte, dann habe ich mir eine Aluminiumscheibe darauflegen und dick einbandagieren lassen, damit da niemand draufkloppen kann.“ Erst als die Strukturen des Handballs sich zunehmend professionalisierten, begannen die Spieler mit dem Konsum von Schmerzdämmern. „Ich habe vor dem Training keine Schmerzmittel genommen, aber klar, vor einigen Spielen habe ich mir auch mal eine Voltaren eingeworfen“, erzählt Karsten Kohlhaas. An dieser Praxis änderte sich lange wenig. Als Hens in dem Film „Projekt Gold“ über seine schwere Bänderverletzung berichtete, die er kurz vor der WM in einem Bundesligaspiel in Köln erlitten hatte, kommentierte er dies so: „Das sind so Sachen, da beißt man auf die Zähne.“ Bei Schmerzen nehme man eine Voltaren und zwei Tage später spiele man wieder. „Das ist ganz normal, das geht anderen Spielern auch so.“ Wie verbreitet der Konsum von Schmerzmitteln im Leistungshandball tatsächlich ist, darüber lassen sich jedoch keine verlässlichen Aussagen treffen. Valide Studien zu dem Thema existieren nicht. Klar ist aber gleichzeitig, dass viele Profis zu leichtfertig mit dem Konsum umgingen. Nationalspieler Stefan Kretzschmar prahlte zeitweise geradezu damit, sich vor jedem Spiel eine Pille gegen die Schmerzen einzuwerfen. Wenn die deutsche Nationalmannschaft bei großen Turnieren am Start war, wurden teilweise hohe Dosen konsumiert. „Früher gab es häufiger einen Cocktail“, berichtet Baur aus der Zeit der „Goldenen Generation“. Dann hieß es: „Gib mir mal ‘ne Mischung 2:1 Voltaren zu Aspirin.“ Manchmal war, sagt Baur, das Verhältnis auch umgekehrt. Heute wisse er, dass Aspirin ein Blutverdünner und insofern extrem problematisch sei. Verboten war und ist der Einsatz von Schmerzmitteln bis heute nicht (obwohl Experten wie Werner Franke vehement fordern, sie auf die Dopingliste zu setzen). Zugleich wurden die Profis bei den großen Turnieren wie einer Europameisterschaft, die (nur ein Beispiel) 2004 in der Hauptrunde drei Spiele in 48 Stunden vorsah, zum Konsum dieser Präparate geradezu genötigt. Anders hätten die Profis das knüppelharte Programm kaum durchhalten können. „Die ganze Reihe vor mir war voll mit Schmerztabletten“, erzählt Torwart Henning Fritz aus dieser Ära. „Der Takt der Spiele war aber auch brutal.“ In der Ökonomie des Handballs war der Einsatz von Schmerzmitteln insofern integraler Bestandteil.

Der Cocktail half auch bei dem „Wintermärchen“ 2007. „So lange solche kleinen Hilfsmittelchen erlaubt sind, nehme ich sie“, bekannte Kreisläufer Christian Schwarzer nach dem dramatischen Halbfinale gegen Frankreich. Woraufhin der Hersteller nach dem Triumph in einer Pressemeldung mit folgender Schlagzeile warb: „Weshalb unsere Handballer auch ‚(Be-) Sieger der Schmerzen‘ sind.“ Voltaren, so zitierten PR-Leute einen Orthopäden, sei „Basistherapie bei Schmerzen durch Überlastung und Abnutzung. Voltaren ist ein ausgezeichnetes und gut wirksames Präparat, kein Wunder, dass unsere Jungs darauf schwören.“ Inzwischen wird der Umgang mit Schmerzmitteln viel kritischer betrachtet als in dieser Zeit, in der auch dänische Medien deutschen Bundesligaclubs vorwarfen, die Spieler mit Schmerzmitteln vollzustopfen. „Vor fünf Jahren nahmen noch fast die Hälfte der Profis vor jedem Spiel Schmerzmittel“, berichtet Brandecker, der auch die deutsche Nationalmannschaft mitbetreute. Heute kämen schmerzstillende Spritzen zwar noch vor. „Aber mein Eindruck ist, dass der Umgang mit Schmerzmitteln bei den Spielern viel bewusster ist.“ Insgesamt, glaubt Markus Baur, „ist das Bewusstsein für Gesundheit größer geworden“. Auch Brandeckers Kollege Volker Broy sieht das so. „Es gibt heute eine größere Vorsicht im Umgang mit Verletzungen als noch vor zehn Jahren“, sagt der Mannschaftsarzt des TBV Lemgo. Selbstverständlich bewege man sich im Leistungshandball in Grenzbereichen körperlicher Fähigkeiten, aber der wichtigste Grundsatz sei: „Ich will dem Spieler auch in 25 Jahren noch ins Gesicht gucken können und muss alles dafür tun, dass dieser Spieler auch dann noch gesund ist.“ Er lehne den Einsatz von Schmerzmitteln daher aus ethischen Gründen ab. Das Gefahrenpotenzial ist schließlich enorm. Schmerztherapeut Gottschling warnt, dass Substanzen wie Ibuprofen und Diclofenac, wennsie in hohen Dosen eingeworfen werden,„riesige Löcher in die Magen- und Darmwände fressen. Allein an davonverursachten Blutungen sterben jedes Jahr mehrere tausend Menschen. Wir wissen auch, dass Ibuprofen das Herzinfarkt-Risiko verdreifacht.“ Auf einen weiteren gravierenden Umstand im Leistungssport weist Dr. Andree Ellermann hin. „Das Problem sind oft nicht die Schmerzmittel an sich“, sagt der Orthopäde von der Arcus Klinik in Pforzheim. „Das Problem ist, dass die Schmerzschwelle zum Beispiel nach Verletzungen sinkt und der Athlet dadurch Gelenke, die eigentlich noch nicht voll belastet werden können, voll belastet. Dadurch entstehen chronische Schäden.“ Der Schmerz sei als Funktion einfach wichtig, „weil er dem Athleten signalisiert: Hier ist eine Grenze“.

Es gibt viele Handballer, die diese Grenzen mit ihrer Art zu spielen eigentlich permanent überschreiten. Holger Glandorf von der SG Flensburg-Handewitt etwa marschiert immer noch in jede Deckung, als gäbe es kein Morgen. Nationalspieler Steffen Weinhold kracht in jedem Spiel, weil er den Zweikampf im Sprung sucht, aus luftigen Höhen auf den Boden. Diese Spieler werden für ihre Leidensbereitschaft zumindest bestaunt, zuweilen sogar bewundert. Und dann gab es und gibt es Spieler, denen wird vorgeworfen, diese Zone des Schmerzes weitgehend zu vermeiden. Einer von ihnen war Markus Baur. „Es gibt Szenen, da weiß man, dass es weh tun wird. Man macht das trotzdem, weil das im Handball einfach dazugehört“, sagt der Weltmeister von 2007. Über den Vorwurf, nicht dahin zu gehen, wo es weh tut, lacht er aber. „So hieß es nur nach Niederlagen“, sagt er und nennt das eindrucksvollste Beispiel aus der heutigen Bundesliga.

„Was ist denn mit Andy Schmid?“, fragt Baur, schließlich wurde Schmid dieses Zurückziehen in seinen früheren Jahren auch gern nachgesagt. Schmid, sagt Baur, sei wahrscheinlich derjenige Profi, der am wenigsten Energie im Zweikampf verbrauche und trotzdem einen sagenhaften Handball spiele. „Der Andy spielt so schlau und clever, deshalb verletzt er sich kaum. Wenn er vor sich Patrick Wiencek und René Toft-Hansen sieht, dann weiß er genau, dass er da nicht durchkommt.“ Aber auch Schmid gehe, betont Baur, ja durchaus in harte Duelle, wenn sie Erfolg versprächen. Er kalkuliere den Schmerz perfekt. Schmid ist, wenn man so will, eine Art Gegenentwurf zu jenen Profis, wie sie Oliver Roggisch verkörperten. Er vermisst den Schmerz im Spiel nicht und wird ihn auch nach der Karriere nicht vermissen. Seine Spielweise ist auch deshalb intelligent und ökonomisch, weil sie seine Karriere verlängert. Und sie wird auch von den Kollegen und der Öffentlichkeit bewundert, sie ist also zeitgemäß. Anders sind die Auszeichnungen zum Spieler der Saison, die er nun schon vier Mal (!) in Folge erhalten hat, nicht zu erklären. Wenn ein Profi sich nahezu schmerzfrei zum besten Spieler der Bundesliga entwickeln kann, dann ist womöglich ein kultureller Wandel im Leistungshandballin Gange.

Dieser Artikel stammt aus der HANDBALL inside Ausgabe 1/2018. Autor: Erik Eggers

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Quelle: HANDBALL inside

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